Maria und der Engel

Wie gut, dass Maria kein Kind unserer Tage ist, sonst hätte der Engel Gabriel einen schweren Stand gehabt.

Mary, unsere Jetzt-Zeit-Maria, springt nämlich ganz anders mit dem überraschten Engel um. Da die Existenz von Engeln höchst zweifelhaft ist, testet Mary zunächst einmal seine Glaubwürdigkeit. „Wenn ich Sie recht verstanden habe, geben sie vor, ein Engel zu sein." Dann soll er ihr gefälligst erklären, wie geistige Energie sich materialisieren kann, denn um solch einen Fall handelt es sich ja wohl bei ihm.Gabriel kommt ganz gut über die Runden. (Immerhin kennt er die Lehre des Hl. Thomas von Aquin über die geistigen Wesen seit einigen Hundert Jahren.) Bei den Testfragen zur neueren Dogmatik, die Mary überraschend einstreut, kommt er allerdings ganz schön ins Schleudern.

Immerhin ist Gabriel nicht unsympathisch. (Die Flügel stehen ihm sogar ganz gut.) Und so entschließt Mary sich, seine Existenz als vorläufige Arbeitshypothese anzuerkennen:

„Was wollen Sie nun eigentlich von mir? "Gabriel lässt schnell seine geplante Einleitung „Fürchte Dich nicht, Mary ....." fallen, und kommt zur Sache. Seine würdig vorgetragene Botschaft löst bei Mary Erheiterung aus. Ha Ha. Als emanzipierte Frau ist es doch klar, dass sie keinen Mann erkennt. Wie also soll's geschehen. Und selbst wenn; über die Namensgebung für ihr Kind lässt sie sich schon gar keine Vorschriften machen.Gabriel bekommt allmählich Muffensausen (wenn dieser Ausdruck für einen Erzengel überhaupt zutreffen kann). Er sieht seinen Auftrag gefährdet. Und insgeheim bedauert er, dass er seine Fortbildung in Menschenkunde aufgrund einiger gelungener Aufträge vernachlässigt hat.

Doch im letzten Augenblick zeigt ihm der Geist den rechten Weg. Und siehe da, es gelingt. Er kann Mary klarmachen, dass sie als Mutter eines der berühmtesten Religionsstifter aller Zeiten Karriere machen kann. Außerdem wird ihr Sohn eine neue Periode im Kampf gegen reaktionäre Elemente in unserer Gesellschaftsstruktur einleiten. (Dass der Thron Davids von jeher ein Symbol des Kampfes der Armen gegen die Unterdrückung der Reichen gewesen ist, geht dem Engel schon so flüssig von der Zunge, als habe er nie anderes geredet.) Mary gibt zu, dass Gabriel ihr ganz neue Perspektiven aufgerissen habe. Und erleichtert scheidet der Engel von ihr.

Als Mary wieder allein war, glaubte sie zunächst, sie sei einer Halluzination aufgesessen. Doch die paar Federn, die der Engel gelassen hatte, belehrten sie eines besseren. Wenig später gelang es ihr, diese Federn anhand eines Biologiebuches eindeutig als die Federn einer Taube zu identifizieren.

Nun war ihr alles klar. Sie analysierte das Geschehen und kam zu dem Schluss, dass sie eine Quasi-Kommunikation mit ihrem Überich als real angesehen habe. Und nun begann ihr das Erlebnis Spaß zu machen. Sie goss sich einen Whisky in die Figur und dann beschloss sie, sich auf ihr Mofa zu schwingen und auf einen Sprung bei ihrer Cousine Lissie vorbeizuschauen. Die hatte schon immer einen Sensus für psychologische Phänomene.

Gesagt, getan. Lissie stand schon vor der Tür und begrüßte sie mit den Worten: „Du bist gebenedeit unter den Frauen."Das Gesicht, das Mary da gemacht hat, möchte ich zu gerne sehen.

© Matthias Kleis

 

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